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Aufführungsanalyse, Im Internet gibt es keine Mädchen, Marion Schneider, Mousonturm, Performance, Rezension, Susanne Zaun, Theater, zaungäste
Diese Kritik ist ein wenig anders als das, was man hier sonst so auf meinem Blog liest – sehr viel länger und auch komplett Spoiler-gefüllt, da ich die gesamte Performance beschreibe. Es ist auch keine Rezension, sondern eine Aufführungsanalyse, die ich für mein Studium geschrieben habe.
Performance-Gruppe: Marion Schneider, Susanne Zaun, zaungäste-Ensemble; Genre: Performance; Premiere: 2021
Meine Bewertung: 9/10 Punkten
Handlung:
„Ich würde es eigentlich bevorzugen, lieber gar nicht gehört zu werden. Ich würde es eigentlich bevorzugen zu schweigen. Ich würde es eigentlich bevorzugen, nicht in Erscheinung zu treten. Oder anders gesagt: Ich würde es bevorzugen, das Privileg zu haben, die Klappe zu halten und trotzdem gehört zu werden. Dafür muss ich aber ausholen. Denn irgendwann ist Schluss. Irgendwann ist die Grenze erreicht. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich nicht mehr kann, und sich der über Monate oder Jahre hinweg aufgestaute Zorn in einem Wutanfall entlädt. Diesen Wutanfall habe ich jetzt.”
Wer macht eigentlich im Internet sauber, wenn die Trolle wüten und wer versteckt sich zwischen Ober- und Unterbühne und passt auf, dass die Protagonist:innen nicht stolpern? Ausgehend von der Behauptung „Im Internet gibt es keine Mädchen“ stellt sich der Chor der zaungäste einmal mehr die Frage, in welcher Tonlage gesprochen werden muss, um gehört zu werden und wem welche Räume offenstehen – on- wie offline. Wann wandelt sich aufgestaute Wut in Hass und wer hat das Privileg, sich zu verweigern und trotzdem nicht unsichtbar zu sein? Basierend auf Interviews mit Frauen*, die auf unterschiedliche Weise beruflich mit dem Thema Unsichtbarkeit zu tun haben, Texten von Autor:innen, Internetaktivist:innen und Cyberfeminist:innen und auf Probentagebüchern arbeiten sich die zaungäste an einer Hasstirade auf die alltäglichen Hasstiraden ab.
Hier gibt es mehr Infos: https://www.mousonturm.de/events/im-internet-gibt-es-keine-maedchen/
Aufführungsanalyse:
Das Stück Im Internet gibt es keine Mädchen von Marion Schneider, Susanne Zaun und dem zaungäste-Ensemble wurde im November und Dezember im Mousonturm in Frankfurt am Main (ur-)aufgeführt. Wenn man als Zuschauer*in die Black Box betritt, kann man aufgrund der Covid-19-Pandemie im Schachbrettmuster auf der Tribüne Platz nehmen. Man schaut auf eine Bühne, die fast leer ist – lediglich fünf Soufflier-Muscheln, die zum Publikum ausgerichtet und über Löchern im Bühnenboden stehen, sind zu sehen. Der Zuschauerraum wird durch ein leichtes blaues Licht erhellt, im Bühnenraum wirft eine Diskokugel eine Art Sternenlicht an die Wände.
Das Stück beginnt damit, dass man die Stimmen verschiedener Performer*innen hören kann, die auf verschiedene Arten Fragen, ob ihre Stimmen angenehm sind – nicht zu laut, zu hoch, zu piepsig, zu schrill. Dann werden die Muscheln von innen beleuchtet und fünf weiblich-gelesen Performer*innen tauchen in diesen auf, sodass sie ungefähr ab der Hüfte aufwärts gesehen werden können. Sie schauen das Publikum direkt an. Synchron beginnen sie, ein langgezogenes „I“ zu sprechen und fordern das Publikum durch überzeichnete Mimik und deutliche Gesten dazu auf, das Wort oder den Satz weiterzuführen – als wüsste dieses genau, was es eigentlich sagen soll. Das „I“ wird solange wiederholt, bis jemand aus dem Publikum mitspricht, dann wird der Text synchron fortgeführt.
Die fünf Performer*innen teilen sich auf: Die beiden ganz rechts (4 und 5) flüstern den Text betont, die anderen drei fangen zeitversetzt an, den gleichen Text laut, aber monoton zu sprechen. Dies stellt bereits nach der ersten Partizipations-Aufgabe zum „I“ die zweite Anforderung an das Publikum da, da es sich entscheiden muss, wem es zuhört, um den Text verstehen zu können. Der Text handelt davon, wem im Bühnenkontext (und anderen Kontexten) Stimmen gegeben werden, wem zugehört wird, wer sich dies erkämpfen muss. „Ich würde es eigentlich bevorzugen, zu schweigen, das Privileg zu haben, die Klappe zu halten und trotzdem gehört zu werden.“ Dies ist der Satz, der die Aussagen für mich am besten widdergibt und unsere Gesellschaft, das Patriarchat und Bevorzugung bestimmter Gruppen kritisiert. Es beschriebt die Situation von Gruppen(-mitgliedern), die nicht die Möglichkeit haben, sich zurückzulehnen, sondern konstant dafür kämpfen müssen, dass man ihnen und ihren Problemen und Bedürfnissen Beachtung schenkt.
Nach dem chorisch gesprochenen Text ändert sich das Licht: Das blaue Licht im Zuschauerraum geht aus, in den Muscheln geht ein pinkes Licht an. Sanfte instrumentelle Musik beginnt zu spielen und die fünf Performer*innen verschwinden immer wieder unter der Bühne, um verschiedene Dinge auf die Bühne vor und zwischen den Muscheln zu stellen: Zettel mit Texten, Tee, Süßigkeiten und ähnliches. Sie ignorieren die Zuschauenden und beginnen eine Art Teeparty: Sie unterhalten sich leise untereinander, lernen ihre Texte, trinken Tee, essen Süßes, besuchen sich gegenseitig in ihren Muscheln und lästern über das Publikum. Nach einer Weile klappt die Person ganz links ihre Soufflier-Muschel um, sodass das Publikum sie nicht mehr sehen kann. Dann steigt die Person in einer Maske eines alten, weißen Mannes und einem um die Schultern gebundenen Pulli aus dem Loch unter der Soufflier-Muschel auf die Bühne. So läuft sie auf der Bühne umher, scheint hinten das Licht und die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu suchen, geht dann nach vorne und setzt sich auf die Bühnenkante direkt vor eine der noch offenen Muscheln. Die anderen Performer*innen schauen ihn missbilligend an und klappen ebenfalls ihre Muscheln um. Auch die fünfte Person in der Maske des alten Mannes verlässt die Bühne wieder durch das Loch unter ihrer Soufflier-Muschel.
Das blaue Licht im Zuschauerraum geht wieder an, die Musik geht aus, die fünf Performer*innen tauchen wieder in ihren Muscheln zum Publikum gewandt auf. Sie beginnen, chorisch zu sprechen, monoton und in einem Rhythmus, der nicht mit dem übereinstimmt, wo man normalerweise beim Sprechen Pausen setzen würde. Die fünfte Performer*in kommt aus ihrer Muschel heraus und setzt sich auf die Bühne. Mit einem Mikro spricht sie zeitversetzt den gleichen Text wie die anderen, allerdings in einem natürlichen Sprechrhythmus und mit Betonungen. Es geht nun um Hass-Kommentare im Internet und dass es dort keine Mädchen gibt: Mädchen geben sich als andere Personen aus, und andere Personen geben sich als Mädchen aus. Es findet eine Gegenüberstellung von der Freiheit, die die Anonymität im Internet geben kann, und der dadurch entstehenden Bedrohung und des Hasses statt.
Die Performer*innen verschwinden wieder hinter ihren Muscheln und klettern auf der anderen Seite in Kostümen wieder auf die Bühne. Die Kostüme stellen verschiedene Horror-Figuren dar, so unter anderem die Mörderpuppe Chucky und ein Kostüm aus der Serie Squid Game. Jemand hat eine riesige schwarze Perücke auf, die das Gesicht verdeckt, jemand hat ein pinkes Kleid an, das Muskeln simuliert. Auch das Kostüm des alten weißen Mannes ist hier wieder dabei, und wird hier so mit den übrigen Monster- und Horror-Figuren gleichgesetzt.
Die fünf gehen zum Bühnenrand und nehmen ihre Masken und Perücken ab. Sie beginnen wieder, chorisch zu sprechen – über Prinzipien, Widersprüche und die beruhigende Wirkung von Hundebabys. Über Katzenvideos, die das einzige im Internet zu sein scheinen, die keine Hasskommentare auslösen – aber nur noch über Katzenvideos zu kommunizieren sei auch keine Lösung. Die Situation wird zu einem Probenprozess auf der Bühne: Die Darsteller*innen nehmen ihre Handys zu Hilfe, üben das gemeinsame Sprechen. Sie stoppen immer wieder, um Fehler zu korrigieren, eine andere Betonung auszuprobieren, und über die Worte und Vortragsweise zu diskutieren. Nach einer Weile wird das Publikum, das für den bisherigen Teil des Probenprozesses ignoriert wurde, wieder mit einbezogen: „Ah, ja, das ist Ihre Stelle.“ Nun soll das Publikum chorisch sprechen, jedoch ohne den Satz zu kennen. Dann wird dieser Wort für Wort vorgesprochen, und nach jedem Wort soll dieses von den Zuschauer*innen nachgesprochen werden – was die meisten auch tun. Der Satz, der sich dabei ergibt, ist jedoch ein Hasskommentar aus dem Internet, eine Beleidigung, die dem Publikum, das mitspricht, hier in den Mund gelegt wird. Vielen scheint erst danach klar zu werden, was sie da eigentlich gerade gesagt haben.
Das Stück endet damit, dass die angestaute Wut über den Hass, die Beleidigungen und die Diskrimination im Internet sich über diese Hasstiraden auf Hasstiraden in einem Wutanfall entlädt. Es wird eine kleine Stoffkatze auf die Bühne gestellt, die alle, was gesagt wird, nachspricht, und eine Referenz zurück zu den Katzenvideos im Internet ist. Eine der Performer*innen holt einen Hammer hervor und haut auf die Stoffkatze. Das Publikum lacht, die Katze nimmt auch dies auf und spielt es wieder ab. „Diesen Wutanfall habe ich jetzt“ sprechen die Performer*innen, und solange die Katze es wiederholt, wird erneut mit dem Hammer auf sie gehauen – bis sie kaputt und stumm auf der Bühne liegen bleibt.
Das Stück ist insgesamt sowohl inhaltlich als auf performatorisch eine beeindruckende Leistung. Die Texte, die Hasstirade auf die Hasstirade, ist eindrücklich, sie ist präzise formuliert, arbeitet mit Wiederholungen und spiegelt somit und durch die verarbeiteten realen Hasskommentare die immer gleichen und sich wiederholenden Kommentare im Internet, die wir als Internetnutzer alle kennen, wider. Besonders mit dem oben bereits erwähnten Satz „Ich würde es eigentlich bevorzugen, zu schweigen, das Privileg zu haben, die Klappe zu halten und trotzdem gehört zu werden“ wird ein großes Problem von Minderheiten und diskriminierten Gruppen angesprochen. Die Einbindung des Publikums und dass dieses dazu gebracht wurde, bestimmte Teile selbst auszusprechen, hat den Effekt, dass man sich sehr viel intensiver und persönlicher mit der Thematik auseinandersetzen muss. Nicht zuletzt war die Performance an sich wahrlich beeindruckend – das viele deutliche und synchrone chorische Sprechen, sowie auch die Darstellung einer Probensituation, die sich absolut real angefühlt hat, so, als säße man tatsächlich gerade im Probenraum mit drin und das Gespräch würde sich gerade vor einem erst entwickeln, statt bestens vorbereitet und geprobt zu sein.